Keine westdeutsche Großstadt verändert sich so schnell wie Frankfurt, daher widmet die F.A.S. der blühenden Großstadt ihren kompletten Wirtschaftsteil. Sie porträtiert die neuen Kultwirte im Bahnhofsviertel, die Deutsch-Banker und die Links-Revolutionäre der siebziger Jahre, die mit Joschka Fischer die Welt verändern wollten. Die Redaktion sprach mit bedeutenden Frankfurter Juden, den wahren Baumeistern der Stadt. Und sie interviewte die klügsten Denker von morgen.

FRANKFURTS NACKTE ZAHLEN [jpg]

Frankfurt erbaut sich eine komplett neue Altstadt zwischen Römer und Dom. Einige hundert Meter weiter östlich ist der Neubau der Europäischen Zentralbank 201 Meter in den Himmel gewachsen, der Arbeitsplätze für 2.000 Zentralbanker bereitstellen wird. Der neue Campus Westend der Goethe-Universität gehört jetzt schon zu den schönsten der Republik. Die Architektur unterstreicht den Anspruch der Universität, zu einer der besten in Europa zu werden. Zwei große Neubaugebiete mit jeweils rund 10.000 Einwohnern entstehen parallel an anderen Stellen der Stadt. Gleichzeitig entwickelt sich das Bahnhofsviertel zu einem coolen Stadtteil für Kreative.

Frankfurt wächst seit wenigen Jahren dramatisch. Es ist eine Folge einer neuen Anziehungskraft: Früher wollten viele Leute in Frankfurt nur arbeiten, jetzt wollen sie hier auch wohnen. Mit der baulichen Hinwendung zum Main und dank der Parks ist die Stadt attraktiver denn je. Die Museumslandschaft ist einzigartig für eine Stadt dieser Größe. Frankfurt leistet sich das. Nicht nur die Stadtregierung kann sich dank hoher Steuereinnahmen ein hohes soziales und kulturelles Niveau erlauben, es drängt auch wieder viel privates Kapital in die Stadt. Reiche Stifter leisten ihren Beitrag, um ambitionierte Umbauten wie den des Städel möglich zu machen. Geld hilft in der Stadt, in der fast jeder zweite einen Migrationshintergrund hat, soziale Spannungen zu mildern. Der Umbau der Großstadt am Main geschieht weitgehend unbeachtet von der bundesdeutschen Öffentlichkeit, die ihre Aufmerksamkeit eher Berlin schenkt und vielleicht noch Stuttgart.
22.8.13
Das neue Frankfurt
Von Winand von Petersdorff

Frankfurt ist schöner als Köln, reicher als Gelsenkirchen, handlicher als Berlin, lebendiger als München, jünger als Baden-Baden, bunter als Hamburg und sonniger als Hannover. Das muss auch einmal gesagt sein in dieser Zeitung, die zu Recht nicht verdächtigt wird, übertrieben lokalpatriotisch zu sein.

Dynamik ist die Konstante: Keine westdeutsche Großstadt verändert sich so schnell wie die kleine Metropole am Main. Der Neubau der Europäischen Zentralbank, in der einst knapp 1800 Banker Platz finden werden, ist nur eines von mehreren Großprojekt«en, die in Frankfurt parallel hochgezogen werden. Man legt sich gerade eine neue Altstadt zu, zwei neue große Wohngebiete, in die jeweils eine Kleinstadt passen würde, und dazu eine neue Universität mit größten Ambitionen.

Man riecht das Geld, es fließt längst wieder in Strömen in die Stadt nach der Finanzkrise. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmet deshalb ihren kompletten Wirtschaftsteil der blühenden, gelegentlich etwas spröden kitschfreien Großstadt.

Wir haben die neuen Kultwirte im Bahnhofviertel besucht, die Deutsch-Banker und die Links-Revolutionäre der siebziger Jahre, die mit Joschka Fischer die Welt verändern wollten. Wir sprachen mit bedeutenden Frankfurter Juden, den wahren Baumeistern der Stadt, und mit den klügsten Denkern von morgen.

Das Schönste an Frankfurt bleibt, dass man schnell wegkommt. Aber man muss es nicht mehr so dringend.
Reich und sexy
Frankfurt verändert sich. Mit großer Dynamik und mit viel Geld. Noch nie war die Stadt so schön wie heute. Und so teuer.
Von Rainer Hank und Winand von Petersdorff

Ulrike ist Anfang dreißig. Fünf Jahre hat sie im Berliner Kulturbetrieb gearbeitet, als sie das Angebot erhält, zu einem renommierten Frankfurter Verlag zu wechseln.

Es war ein Angebot, das sie nicht ausschlagen wollte, auch wenn der Wechsel vom kreativen Berlin, wo Freunde und Liebe zu Hause sind, ins Business-Frankfurt wie ein ziemlich schlechter Tausch aussah. Mit dem Mut der neugierig Verzweifelten zog Ulrike in eine WG mitten ins Bahnhofsviertel. Dort lebt sie seit mehr als einem Jahr und ist begeistert, nicht nur von der Arbeitsstelle. Sondern vom neuen Frankfurt.

Ulrikes Erzählung ließ uns hellhörig werden. Vor zehn Jahren wäre keine bürgerlich-gebildete junge Frau auf die Idee verfallen, ins verschrieene Drogen- und Rotlichtmilieu östlich des Frankfurter Bahnhofs zu ziehen. Und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung wäre nie auf den Einfall gekommen, ein Spezial über das neue Frankfurt zu machen. Heute ist das Bahnhofsviertel am Kippen: immer noch verrucht, aber mit schicken Clubs und Restaurants, steht es kurz vor der Gentrifizierung. Genau der richtige Ort für Leute, denen Prenzlauer Berg und Friedrichshain in Berlin zu langweilig geworden sind.

Das ist ein Signal. „Frankfurt hat keine schlechten Viertel mehr“, sagt der Immobilienentwickler Max Baum. Er hat recht. Die Dynamik der Veränderung mitten in der Stadt ist gewaltig und kann – mit nur ein paar Gramm Übertreibung – verglichen werden mit dem Umbruch Berlins nach dem Fall der Mauer. „The Big Hole“, das große Loch, hatten die New Yorker um die Jahrtausendwende in Berlin bewundert. Heute könnten sie so etwas in Frankfurt besichtigen – nahe dem Kaiserdom etwa, wo eine riesige urbane Fläche neu belebt wird, oder wenige hundert Meter den Main hinunter, wo anstelle der alten Degussa Wohnungen, Büros und neue Geschäfte entstehen. Gigantisch ist allein schon das Europaviertel auf dem alten Güterbahnhof zwischen Messe und Innenstadt: dort entsteht auf 670 000 Quadratmeter Fläche quasi im Zentrum ein ganzer Stadtteil für mehr als 13 000 Frankfurter. Dort sieht es heute schon so aus, wie „Stuttgart 21“ irgendwann in vielen Jahren aussehen könnte.

„Frankfurt war immer schon Modell und Labor der Bundesrepublik Deutschland“, sagt der Historiker Werner Plumpe: Wie im Brennglas kann man hier früher erkennen, was aus Deutschland später werden könnte.

Voraussetzung für all die Veränderungen indes ist schlicht Geld, viel Geld. Weil Frankfurter Immobilien als sichere Geldanlage gelten, greifen in- und ausländische Fonds, Versicherungen, Pensionskassen und private Anleger derzeit so beherzt zu wie schon lange nicht mehr: Immobilien im Wert von 1,8 Milliarden Euro wechselten laut Jones Lang LaSalle allein im ersten Halbjahr den Besitzer. Mehr Geld wurde in keiner anderen deutschen Stadt investiert. Der „Gallileo“, ein gläserner Büroturm im Bankenviertel, gehört sechs koreanischen Pensionskassen, meldete der Lokalteil der F.A.Z. unlängst. Zirka hundert Millionen Euro hat ein israelischer Investor für ein neues Bürohaus an der Bockenheimer Warte ausgegeben.

Die Stadt arbeitet. Selbst das Jahrhundertereignis Weltfinanzkrise hat die Bankenstadt nicht gelähmt. Trotz Bankenschrumpfen und Deindustrialisierung steigt die Zahl der Arbeitsplätze von Jahr zu Jahr stetig und hat 2012 einen Höchstwert von 650 000 erreicht. Nicht schlecht in einer Stadt mit gerade einmal 700 000 Einwohnern. Auch das gibt es in Deutschland kein zweites Mal.

Frankfurt nimmt das alles selbstverständlich, ohne viel Brimborium und Angeberei. Peter Feldmann, ein SPD-Mann, der durch einen Zufall der Weltgeschichte im vergangenen Frühjahr zum Oberbürgermeister gewählt wurde, macht freilich keinen Hehl daraus, dass es mehr Spaß macht, in der Mainmetropole Bürgermeister zu sein als, sagen wir, im bis über beide Ohren verschuldeten Oberhausen. Die feinen Frankfurter fremdeln noch ein wenig mit dem neuen Schultheiß, weil er nicht auf jeder Party herumsteht wie seine beliebte Vorgängerin Petra Roth (die heute immer noch auf diesen Partys herumsteht). Aber man sollte sich in diesem schüchtern wirkenden Mann nicht täuschen. Er versteht nicht nur etwas von Sozialarbeit und Off-Kunst, wie er gerne kokettiert, sondern auch vom Geld.

Und das ist in Frankfurt wichtig. Denn hier wird das Geld gemacht – von Mario Draghi, dem Mann mit der großen Notenpresse. Die Macht der Europäischen Zentralbank EZB zeigt sich inzwischen auch optisch: Die beiden aus der alten Großmarkthalle sprießenden Türme im Frankfurter Ostend dominieren den Blick und verwandeln heute schon das ehemalige Industrieviertel. Vom kommenden Jahr an kann Draghi noch einmal 1000 Leute aus aller Herren Ländern einstellen, die für die europäische Bankenaufsicht zuständig sind. Mit ihnen kommen ihre Familien: Sie sind gebildet, wollen gute Schulen für ihre Kinder, Theater, Museen und Restaurants.

Hier sei eine Stadt der schlauen Leute, hat ein Ranking des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) jüngst festgestellt und Frankfurt auf Platz Eins gehievt (gewiss, man findet andere Rankings, wo München oder Hamburg siegen). Wichtiger als solche Rankings sind die täglichen Erfahrungen, wonach ein Ballungsraum mit 25 Prozent Ausländern und 14 Prozent Deutschen mit Migrationshintergrund fast keine Integrationsprobleme und schon gar keine Parallelwelten hat.

Man sage nicht, das sei kein Hexenwerk bei vorwiegend Angehörigen der Mittelschicht. Allein der große Flughafen beschäftigt auch viele Ausländer mit eher einfachen Qualifikationen. „Frankfurt ist eine Stadt, in der Ausländer nicht fremdeln“, sagt die Mexikanerin n Dinorah Chávez Eljure. Das unterscheide sie von der Provinzstadt Gütersloh ebenso wie von der Großstadt Hamburg, in denen sie auch schon leben durfte.

Der alte Spruch, Frankfurt ist prima, weil man so schnell wegkommt, stimmt. Alle wichtigen Verkehrswege kreuzen sich schließlich hier. Nur: Jetzt wollen die Leute nicht mehr weg. Seit knapp fünf Jahren wächst die Stadt jährlich grob um 10 000, rund 1800 davon wegen eines Geburtenüberschusses, der Rest, wegen des „positiven Wanderungssaldos“: Junge Familien müssen nicht mehr partout in die Wetterau oder an den Taunusrand ziehen. Seit die Stadt sich in den neunziger Jahren zum Fluss geöffnet hat, eine geniale Idee, haben auch die Besserverdienenden (aber nicht nur sie) attraktive Alternativen zum Wohnen im Vorgebirge. Und sie fühlen sich auch sicher. Die jährliche Kriminalitätsstatistik, die Frankfurt jedes Mal als Spitzenreiter aufweist, ist arg verfälscht durch Zoll- und Asylvergehen oder Frachtdiebstähle am Flughafen. Ohne diese Sondereffekte ist Frankfurts kriminelle Energie Durchschnitt. Die Zahl der Gewaltdelikte sinkt seit Jahren deutlich. Die Stadt wird schöner und sicherer. „Und wer erst einmal fünf Jahre hier ist, der will nie wieder weg“, sagt Oberbürgermeister Feldmann.

Allerdings: Attraktivität hat ihren Preis, den sich nicht mehr jeder leisten können wird. Guter Wohnraum ist knapp, Wohnen ist schon fast so teuer wie in München, das Wirtschaftskraft mit hohem Freizeitspaß verbindet, dank Biergärten, Badeseen und der Alpen. Auch sonst ist nicht alles eitel Sonnenschein: Fragt man die Frankfurter, werden sie über den Fluglärm jammern, der in einzelnen Vierteln tatsächlich unerträglich geworden ist. Dass sich hier die Immobilien nicht so schnell verteuern, ist kein Trost.
„Frankfurt ist ein Modell für die Welt“
Der Städteplaner Albert Speer ist der Mann, dem Frankfurt seine Hochhäuser zu verdanken hat. Bettina Weiguny hat den Architekten getroffen, der in der ganzen Welt baut und Frankfurt liebt. Ein Gespräch über das Leben am Wasser und die Verdienste der Hausbesetzer in den 70er Jahren.

Herr Speer, Sie entwickeln Bauprojekte auf der ganzen Welt. Wo würden Sie am liebsten leben?

Genau da, wo ich seit 1960 zu Hause bin – in Frankfurt.

Nicht London, nicht Schanghai, München oder Dubai?

Nein. Von Frankfurt aus bin ich ja schnell überall.

Was macht Frankfurt lebenswert?

Die enorme Vielfalt. Die Kleinheit auf der einen und die Internationalität auf der anderen Seite. Da kann keine andere deutsche Stadt mithalten – und auch im Vergleich mit London oder Barcelona schlägt die kleine Metropole sich hervorragend.

Warum ist der Ruf der Stadt dann so schlecht?

Ach, das ist er doch nicht mehr, außer bei ein paar zurückgebliebenen Provinzlern.

Also, die Hamburger rümpfen schon mal die Nase.

Der Hamburger hat keinen Grund zur Hochnäsigkeit, wirklich nicht. Wenn ich in Asien oder Afrika oder einem arabischen Land unterwegs bin, muss ich mich für Frankfurt nie schämen. Die schätzen Frankfurt nicht weniger als Paris oder London.

Wenn Sie einem Münchner mit Frankfurt kommen . . .

Gut, mit München kann keine Stadt konkurrieren. München ist so schön, dass Sie dort nicht arbeiten können. Aus dem Grund bin ich nach dem Studium aus der Stadt weggegangen.

In München wäre aus Ihnen kein angesehener Architekt und Städteplaner geworden?

Es wäre mir schwergefallen. Die Stadt bietet so viel, da ist man ständig abgelenkt. Bis heute behaupte ich, dass ein Münchner weniger arbeitet als der Rest der Republik.

München hat die Berge, die Seen, den FC Bayern München. Was bietet Frankfurt?

Seit Jahren haben wir die beste Oper in Deutschland, unser Schauspiel ist zu 95 Prozent ausgebucht, das schafft kaum ein Theater. Die „Zeil“ ist die umsatzstärkste Einkaufszeile der Republik. Das kommt alles nicht von irgendwoher. Dafür gibt es Gründe.

Und die wären?

Zunächst einmal profitiert Frankfurt von seiner unvergleichlichen Zentralität in Europa. Hier läuft alles zusammen – von der Bahn, den Autobahnen, der Logistik bis hin zum Flughafen-Drehkreuz. Sogar die Internet-Datenströme laufen in Frankfurt zusammen. Das schafft Arbeitsplätze in Frankfurt und der gesamten Rhein-Main-Region.

Verdankt Frankfurt das schlicht seiner Lage, oder steckt da ei- ne jahrzehntelange Planung dahinter?

Das ist zum Teil der Verdienst der Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die wollten, dass Frankfurt Berlin als neue Hauptstadt ablöst. Als das scheiterte, weil Adenauer sich mit Bonn durchgesetzt hat, hat man gezielt andere Schwerpunkte gesetzt, hat die Buchmesse nach Frankfurt geholt, den Flughafen, die Banken. Dass Frankfurt damals im amerikanischen Sektor lag und die Amerikaner hier ihr Hauptquartier eingerichtet haben, war sicherlich ein großer Vorteil.

Sie sagen, Frankfurt sei städtebaulich ein Modell für die Zukunft. Warum?

Frankfurt ist eine Stadt der kurzen Wege und damit ein Exportmodell für die Städte in der Dritten Welt. Wenn Sie um die Frankfurter Oper herum einen Kreis von einem Kilometer ziehen, finden Sie da alles: Kultur, Geschäfte, gehobene Wohnviertel, aber auch sozialen Wohnungsbau, die Universität, gute Restaurants und viel Grün. Frankfurt ist viel grüner, als man denkt – von den wundervollen Parks, dem botanischen Garten bis zu den Nidda-Auen. Frankfurt weist genau die richtige humane Dichte auf, die eine Stadt lebenswert macht.

Sie loben Frankfurt für seine Kleinheit, aber kann die Stadt auf Dauer konkurrieren gegen die großen Metropolen?

Frankfurt ist Teil einer hervorragend funktionierenden, polyzentrischen Region, zu der Darmstadt gehört, Wiesbaden und Offenbach. Das ist eine unglaubliche Kraft, die anderen Städten fehlt. Jede Stadt hier hat ihre eigenen Stärken, in der Kultur, in der Wirtschaft, im politischen Sektor und der Wissenschaft.

Andere Städte ziehen die Menschen an mit ihren prächtigen Bauten – Paris, München, Barcelona. Da hat Frankfurt nicht viel

aufzuweisen.

Ich bin der Meinung, dass die Architektur im 21. Jahrhundert enorm an Bedeutung verlieren wird. Nicht einzelne pompöse Bauten prägen künftig die Städte, sondern die Kultur einer Stadt, ihre Geschichte und die Menschen, die dort leben.

Das sagen gerade Sie, ein Architekt?

Das sage ich als Stadtplaner. Städteplanung wird immer wichtiger. 80 Prozent aller Neubauten sind 08/15-Gebäude, Wohnblocks und Büros. Da gleichen sich international die Ansprüche immer mehr an. Eine Drei-Zimmer-Wohnung in Singapur unterscheidet sich immer weniger von einer in Deutschland. Sie finden sogar das gleiche Inventar bis hin zur Espressomaschine. Viel wichtiger ist es, dass die Städte sich darüber Gedanken machen: Wo kommen wir her, wo wollen wir hin in 20, 30 Jahren?

Sind das die Sorgen, die die Menschen in Afrika umtreiben?

Wir versuchen, das Bewusstsein dafür zu schärfen. In Ägypten zum Beispiel sollen wir einen Masterplan für die Stadt Alexandria erstellen. Das ist schwierig, weil die Stadt sich ständig verändert und unkontrolliert wächst. Dabei wird Wohnraum geschaffen, aber niemand achtet auf Geschäfte, auf Grün, auf die nötige Infrastruktur.

Wie also geht ein Stadtplaner vor?

In fast allen Städten finden sich industrielle Brachflächen, die in Wohnraum umgewandelt werden können. Auch da ist Frankfurt beispielhaft. Dort entsteht zentral zwischen Bahnhof und Messe ein ganz neuer gewünschter Stadtteil auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs. Zu dem Europaviertel gehören neben den Häuserblocks ein neues Einkaufszentrum, Restaurants, eine große Allee, die den Blick auf die Hochhäuser freigibt, ein Park und viele Grünflächen auch zwischen den Wohnblocks.

Das Viertel grenzt direkt an die „Schmuddelviertel“ der Stadt.

Die werden aufgewertet durch die neue Nachbarschaft.

Schreckt das die potentiellen Bewohner nicht ab?

Nein, das Europaviertel ist eine sehr begehrte Wohnlage für Familien verschiedener Einkommensklassen. Ihnen wird hier viel geboten.

Städtesoziologen sprechen Frankfurt eine Sonderrolle zu: Arm und Reich driften in der Stadt – anders als in allen anderen Großstädten Deutschlands – nicht weiter auseinander. Wie kommt das?

Frankfurt war stets bürgerlich, fast kleinbürgerlich, eine Kaufmannsstadt und nie eine Residenzstadt. Somit fehlen hier die Superreichen-Viertel, die andere Städte geprägt haben. Die Superreichen wohnten und wohnen in Königstein, Bad Homburg, Wiesbaden, nicht aber in Frankfurt. Frankfurt haftet deshalb bis heute etwas Kleinstädtisches an. Das ist ganz wichtig für die Stadt.

Warum?

Weil hier die Integration funktioniert. Frankfurt hat nur 700 000 Einwohner. Daran wird sich auch künftig nicht viel ändern. Zugleich ist Frankfurt die internationalste Stadt in Deutschland, aber die kritische Masse fehlt zum Glück. Es gibt am Bahnhof ein türkisches Viertel, ein armenisches und so weiter. Aber die lassen sich integrieren, da kann keine Nationalität die Macht übernehmen. Deshalb hat Frankfurt kein Kreuzberg, keine Ausschreitungen. Hier brennen keine Autos an den Wochenenden.

Immerhin war Frankfurt mal Hochburg der Hausbesetzer in den 70er Jahren.

Richtig, das war der erste große deutsche Bürgerprotest gegen eine verfehlte Stadtplanung. Das können Sie ohne weiteres mit „Stuttgart 21“ heute vergleichen. Der Protest ging durch alle Bevölkerungsschichten, das waren nicht die Linken, die Chaoten. Die Unterstützung kam von allen Seiten.

Sie haben den Protest auch unterstützt?

Die Forderungen habe ich voll und ganz unterschrieben. Ich hatte damals mein erstes Büro im Westend. Wir saßen also mittendrin. Und meine Mitarbeiter haben mit schwarzen Fahnen auf der Straße dagegen protestiert, dass Häuser wie unseres aufgekauft und abgerissen wurden. Hätte man die Pläne der Stadt nicht gestoppt, wäre das eine Katastrophe für Frankfurt geworden.

Angefangen hat alles mit dem Zeil-Tunnel, den die SPD-Regierung plante, richtig?

Genau, der Tunnel sollte den Verkehr unter der Haupteinkaufsstraße hindurchführen. Der gesamte Individualverkehr wäre mitten durch die Innenstadt gerollt. So ein Schwachsinn! Dagegen sind die Frankfurter Bürger, auch ich, auf die Barrikaden gegangen. Zum Glück haben wir den Tunnel verhindert.

Im Westend hat sich der Protest dann gegen Luxussanierungen gewandt?

Nein, darum ging es nicht in erster Linie. Die Stadt hatte damals politisch entschieden, dass man das Westend, das einzige großbürgerliche Viertel Frankfurts, nicht mehr haben wollte. Das war Vergangenheit, das wollte man nicht mehr sehen. Zugleich gab es einen Engpass an Büroraum wegen der rasant wachsenden Bankenbranche. Die wollte man nach Frankfurt ziehen.

Das Bankenviertel hat ja auch viel Wohlstand und Internationalität gebracht.

Ja, nur wollte man die Hochhäuser direkt im Westend ansiedeln. Da hat keiner öffentlich drüber geredet, aber man hat den Investoren eindeutig signalisiert: Wenn ihr mehrere angrenzende Grundstücke im Westend aufkauft, dann dürft ihr Hochhäuser bauen. Dem wäre das ganze Westend zum Opfer gefallen.

Sie haben dann den Hochhausrahmenplan entwickelt, der in die Wirklichkeit umgesetzt wurde.

Ich habe von Anfang an dafür plädiert, die Hochhäuser an die großen Verkehrsstraßen zu bauen. Da haben alle gesagt: das geht nicht. Das wird zu eng und zu schattig. Aber die Bedenken waren falsch. Jetzt haben wir die Türme an den Hauptachsen der Stadt, und hintendran kann man wunderbar wohnen. Laufen Sie mal durch die kleinen Sträßchen hinter der Deutschen Bank – das ist toll da.

 
Powershopping auf Chinesisch
Fisslertöpfe, Gucci-Taschen, Rimowa-Koffer: Chinesen kaufen Frankfurts Läden leer. Keine andere Stadt wird so überrannt von Touristen aus Fernost.
Von Hendrik Ankenbrand und Maximilian Kalkhof

Alles findet sich in der Küchenabteilung des Kaufhofs: Messer von Fissler, Pfannen von Fissler, Kochtöpfe von Fissler. Und Chinesen. Sie drehen, wenden und kaufen die Produkte der Marke aus Idar-Oberstein, massenhaft. „Es gibt Tage, da shoppen sie uns die komplette Abteilung leer“, sagt die Verkäuferin im Kaufhaus auf der Frankfurter Zeil. Was finden Chinesen nur an Kochgeschirr aus deutschen Landen?

„Das hält für die Ewigkeit und ist in China schwer zu bekommen“, sagt Haitao Xiu. Der Mann ist Herausgeber der „Chinesischen Handelszeitung“, die über alles berichtet, was zwischen Deutschland und dem Reich der Mitte passiert. Sitz der Redaktion ist Frankfurt – die Stadt, die jahrzehntelang als einzige Deutschlands auf der Wetterkarte der chinesischen Fernsehnachrichten eingezeichnet war. In keine Stadt kommen so viele Chinesen wie nach Frankfurt.

Das hat vor allem mit dem Flughafen zu tun, auf dem die Maschinen aus Peking und Schanghai landen. Die klassische Reiseroute der Touristen beginnt am Main, führt über Köln, Rotterdam, Den Haag. Für drei Tage geht es nach Paris und über die Karl-Marx-Stadt Trier zurück an den Main. 70 Millionen Hotelübernachtungen von Ausländern gab es in Deutschland vergangenes Jahr, Frankfurt lag dabei hinter Berlin und München auf Platz drei. Wächst der Tourismus aus China bis 2020 um ein Viertel, wie von der Reisebranche erwartet, drängt Frankfurt noch weiter nach vorne. Vor zwei Dekaden kamen noch fast ausschließlich Geschäftsleute aus China nach Deutschland, mittlerweile sind die Touristen in der Überzahl. Und sie bringen Geld mit.

Bei seiner achttägigen Europareise gibt der Chinese durchschnittlich 1800 Euro aus, ein „riesiges Potential“, wie die Deutsche Zentrale für Tourismus jubelt. Eine größere Mittelschicht in China, das heißt mehr Kaufkraft in Frankfurt, wo die Lederwarenläden auf der Goethestraße mittlerweile strenge Regeln aufgestellt haben: Pro Chinese sind nur zwei Gucci-Handtaschen erlaubt, sonst nimmt die Marke Schaden.

Die Massen aus China krempeln in Frankfurt den halben Handel um. Konzerne aus China investieren ihr Geld nun nicht mehr nur in schwäbische Maschinenbauer wie Putzmeister. Die Chinesen steigen in die Hotelbranche ein, den Anfang machen sie in Frankfurt: Der zweitgrößte, privat geführte Hotelbetreiber aus China kaufte jüngst das „Golden Tulip“ in Offenbach für neun Millionen Euro – 17 Stockwerke sollen für 20 Millionen Euro renoviert werden und als Nobelherberge „New Century“ mit 224 Zimmern und 16 Suiten öffnen. Mit chinesischem Koch und Einwegpantoffeln, die Chinesen lieben. Der Schanghaier Immobilienentwickler Greenland eröffnete in Frankfurt das „Qube“-Hotel, der Huarong-Konzern will hier ein ehemaliges „Swissôtel“ umbauen.

Rund 180 000 Nächte verbrachten Chinesen 2012 in Frankfurt, im Vergleich zum Vorjahr ein Zuwachs von 22 Prozent. Doch teuer dürfen die Zimmer nicht sein, sind für Hotel, Essen und Transport doch im Reisebudget oft nur 50 Euro pro Kopf und Tag eingeplant.

Dann bleibt mehr für Shopping. Daheim verbringen Chinesen im Schnitt dreimal so viel Zeit in Geschäften wie Amerikaner, im Ausland bricht sich die Kauflust erst recht Bahn, hat Journalist Xiu beobachtet, der Reisegruppen mit chinesischen Politikern und Managern durchs Land führt: „Shopping in Frankfurt ist für Chinesen ein mentales Highlight.“ 907 Euro gibt der Chinese laut Free-Tax-Statistik in der Stadt aus und ist damit mit Abstand am kauffreudigsten unter den Touristen, noch vor den Russen.

Das ruft Berater auf den Plan: Eastsong heißt der Marktführer im Geschäft mit den Chinesen. Inhaber Wang Gang bringt chinesische Tourguides und deutsche Einzelhändler zusammen. Wenn Chinesen in Frankfurt einkaufen, führt nicht der Zufall Regie. „Ihr Zugang zu chinesischen Luxusreisenden“, wirbt Eastsong in der Schmuck- und Uhrenindustrie und erläutert, „wie ich die Aufmerksamkeit chinesischer Reisender auf mein Geschäft lenken kann und daraus Umsatz generieren“ – etwa, indem während der Fahrt vom Flughafen in die Stadt eine Produkt-DVD läuft, verbringt der chinesische Tourist im Bus doch „vier bis fünf Stunden“ pro Tag.

Eastsong bietet Shopping-Stadtkarten mit den eingezeichneten Läden der „Partner“ und eine iPhone-App. Weil die Kreditkarte China Unionpay, die in China ein Monopol hat, in Europa meist nicht akzeptiert wird, hat Eastsong in den Frankfurter Läden jetzt Unionpay-Lesegeräte installieren lassen. Chinesische Touristen sprächen kein Englisch und seien deshalb dem Tourguide völlig ausgeliefert, nicht zuletzt bei der Frage, „wo beim Shoppen das Geld ausgegeben werden soll“, teilt das Unternehmen mit. Deshalb veranstaltet es Seminare in riesigen Hallen, in denen 600 Reiseleiter deutschen Händlern auf der Bühne bei der Produktpräsentation zugucken können. Doch auch auf Händlerseite gibt es Lernbedarf.

Kaufhäuser wie Galeria informieren zwar im Erdgeschoss per chinesischen Etagenplan, dass die „Herren-Welt“ im dritten Stock liegt. Doch zwischen Personal und Shopping-Chinesen sind die kulturellen Gräben weiterhin tief. Eine Viertelstunde sei der Verkäufer in der Galeria für die gewünschten Schuhe im Lager verschwunden, berichtet Teilzeitreiseleiter Xiu vom vormittäglichen Besuch einer Gruppe Politiker aus China, die dicke Einkaufslisten in den Händen hielten: „Das ist viel zu lange. Die Gruppen haben für den ganzen Laden nur eine halbe Stunde.“ Auch das Provisionssystem, das den Reiseleitern zehn Prozent der Verkaufssumme zuteilt, die dafür ja auch die Käufergruppen anschleppen, sei deutschen Gewerbetreibenden „oft noch fremd“.

Nach dem ersten Großeinkauf der Chinesen, berichtet Xiu, zeigten sich die deutschen Händler allerdings meist sehr lernwillig.
Tagelöhner trifft Notenbanker
Das Ostend war das Schmuddelkind der Stadt. Nun wächst hier die neue Europäische Zentralbank in den Himmel. Und plötzlich wird es schick.
Von Lisa Nienhaus

Jeden Tag beobachtet Charanjit Multani die schwerbewachte Baustelle gegenüber. Jeden Tag schaut der Inder über den Bauzaun gen Himmel, um zu sehen: Wie geht es voran mit den Türmen der neuen Europäischen Zentralbank? Wann könnte es so weit sein, dass die mehr als 1600 Zentralbanker endlich einziehen? Denn dann, so ist Multani sicher, dann geht es richtig los für ihn, dann beginnt seine große Zeit. Seit zweieinhalb Jahren ist er einer der beiden Inhaber des Restaurants „Frankfurter Küche“ direkt gegenüber der EZB-Baustelle. Das Lokal gibt es schon länger, Multani hat dort einmal als Koch gearbeitet, doch der einstige Besitzer ging pleite. „Wegen der Baustelle“, glaubt Multani. Jetzt ist Multani hier der Chef, die Türme werden immer höher – und er wartet darauf, dass endlich alles fertig ist und die Notenbanker sein Lokal füllen.

Multani ist nicht der Einzige im Ostend, der die Veränderung durch das neue Hochhaus genau beobachtet. Das tun hier alle. Denn das größte Hochhaus-Projekt, das Frankfurt seit langem zu bieten hat, ist nicht nur optisch spektakulär, sondern auch kulturell. Die Notenbank wird von der Innenstadt gen Osten verfrachtet. Heraus aus einem Viertel voller Banker und mehr oder weniger hoher Banktürme. Hinein in ein Viertel, das bislang weder Hochhäuser noch Krawattenträger kennt, stattdessen Tagelöhner, die an der Straße auf Auftraggeber warten. Heraus aus einem Carré mit dem Commerzbank-Geldautomaten gegenüber, dem Starbucks um die Ecke und der Oper nebenan. Hinein in ein Viertel mit Matratzen Concord gegenüber, dem Café am Ostbahnhof um die Ecke (draußen Plastikstühle, Plastikdecken) und dem bekanntesten Frankfurter Bordell nebenan: dem Sudfass (dessen Tage allerdings gezählt sind).

Es ist ein Experiment, das das Viertel grundlegend verändern wird – und das auch schon tut. Das liegt an den zahlreichen Wünschen der EZB. „Unter anderem sollten Ostbahnhof und Danziger Platz neu gestaltet werden, die Verkehrsanbindung verbessert werden“, erzählt Dieter von Lüpke, Leiter des Stadtplanungsamts. „Vielen Erwartungen konnte die Stadt bereits entsprechen“ – die neue Brücke über den Main steht –, „aber nicht allen.“ Der Danziger Platz vor dem Ostbahnhof sieht weiterhin fürchterlich aus.

Doch auch die Stadt hatte große Pläne fürs Ostend – lange bevor klar war, dass die EZB kommt. Über viele Jahre zogen alle Firmen gen Westen, wenn sie Bürogebäude suchten. „Der industriell geprägte Osten galt als zu schmuddelig“, sagt von Lüpke. Das wollte man ändern. Im Ostend hatten sich Betriebe angesammelt, die nicht gerade florierten. Der Großmarkt gehörte dazu, auf dessen Gelände nun die EZB gebaut wird. Aber auch zwei Werften und einiges an Kleingewerbe. Sie wurden gezielt umgesiedelt. Um das Gelände zu erschließen für den Wohnungsbau, die EZB oder andere lohnende Neunutzung. Sozialwohnungen sind entstanden, aber auch ganze Reihen schicker Luxuswohnungen am Main. Die Volkshochschule bekam ein großes Gebäude, die Frankfurt School of Finance, sogar das Literaturhaus zog an die westliche Grenze des Ostends. Alles von langer Hand geplant.

So geschieht die Aufwertung des Ostends nicht natürlich, so wie etwa einst das Nordend durch den Wechsel seiner Bewohner vom alternativen über hippen zum teuren Pflaster wurde. Was sich im Ostend tut, ist zuallererst die Folge eines großen Plans der Stadt.

Wer von Multanis „Frankfurter Küche“ aus die Straße überquert und links um die Riesenbaustelle EZB herumgeht, kann die neusten Ergebnisse der Planung besichtigen. Da verirrt man sich über Stolperwege zwischen Absperrungen schnell in ein Areal, das auf den ersten Blick aussieht wie ein Spielplatz für Außerirdische. In Wirklichkeit ist es ein Spielplatz für sehr menschliche Jugendliche und Erwachsene. Hier gibt es Basketballplätze, hoch umzäunte Fußballfelder, brandneu und kostenlos zu benutzen, eine Halfpipe und ein Skateboard-Gelände, das aussieht wie ein großer leerer Swimmingpool (und auch so genannt wird). Wochenends ist es hier brechend voll.

So etwas entsteht nicht spontan. Dieses „Sportband“ genannte Gelände hat die Stadt so geplant. Wie so vieles andere rund um die neue EZB. Etwa das neue Lokal namens Oosten hinter der Baustelle, direkt am Main: ein dreistöckiger Kasten, schick, verglast, mit einer völlig anderen Klientel als die „Frankfurter Küche“ an der anderen Seite. Hier speist kaum einer, der im Ostend wohnt. Höchstens arbeitet er dort, wenn überhaupt. Viele sehen eher aus, als wären sie direkt aus der Innenstadt am Main entlang hierher gewandert. Man trägt Bluse oder Gucci-Sonnenbrille, Hemd, Krawatte oder irgendwas Szeniges (knallgrünes Hemd zu weißer Hose mit verspiegelter Sonnenbrille zu schütterem Haar).

Bis vor einigen Jahren stand an gleicher Stelle ein provisorisches, beliebtes Lokal namens Pflasterstrand, etwas alternativ, gemütlich und mit Kaffee unter zwei Euro. Jetzt steht hier das Oosten: im Architektenwettbewerb entworfen, mit einem Eigner, der mehr als zwei Millionen Euro investiert hat und sein Lokal als „Event-Location“ preist, mit braungebrannten Kellnern, einer Bar auf dem Dach und Eistee für 4,80 Euro. Gut, ein exklusiver Banker-Treff ist es nicht, das sollte auch nicht so sein, das war den Stadtplanern wichtig, als sie die Ausschreibung für das Lokal machten. Aber mit dem alten Ostend hat das auch nicht mehr viel zu tun.

Das Oosten steht symptomatisch dafür, was im Ostend gerade passiert. Das einstige Schmuddelkind der Stadt – dreckig, billig, lebendig – soll vorzeigbar werden, gar: schick. Aber bloß nicht zu edel. Denn das Viertel soll nicht sein Gesicht verlieren. Es soll aufwerten, aber nicht die alteingesessenen Bewohner vertreiben. Ein irrwitziger Plan, der das Viertel durcheinanderwirft: Jetzt steht alt neben neu, dreckig neben schick und verrucht neben betucht.

„Es ist das Nebeneinander, was das Ostend auszeichnet und interessant macht“, findet Heike Herrmann, Professorin der Hochschule Fulda, die die Entwicklung im südlichen Ostend rund um die EZB in einem großen Projekt untersucht. „Der verwahrloste Mann, der im Müll nach Flaschen sucht, und gleich neben ihm die Frau in Kostüm und Pumps.“

Der Neubau der EZB ist dabei ihrer Ansicht nach nur Beschleuniger einer Entwicklung, die das Viertel schon seit Jahren durchmacht. „Das Ostend war schon vor der EZB im Aufschwung. Nicht als Wohnviertel, aber als Gewerbeviertel.“ Insbesondere an der alten Industriemeile Hanauer Landstraße hätten sich immer mehr kreative Leute angesiedelt: Werber, Architekten. „Sie schätzen die Weiträumigkeit der alten Fabrikgebäude und die geringen Mieten“, sagt Herrmann. Dazu kamen die Clubs, die es hier schon länger gibt. Und jetzt die EZB.

Für die alten Bewohner des Ostends ist das aufregend, aber auch nicht leicht zu verkraften. Dimitrij Anzupow zum Beispiel weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll über das, was sich tut. Der Mann mit dem großen, runden, freundlichen Gesicht wohnt im Ostend und betreibt wenige Meter von der neuen EZB entfernt eine internationale Buchhandlung, spezialisiert auf russische Bücher. „Ich weiß nicht, ob unser Laden noch miterleben wird, wie die Banker hier einziehen“, sagt er. Erst vor vier Jahren hat er eröffnet, weil die Miete unschlagbar günstig war. Drei Jahre später hatte das Haus angesichts der wachsenden Baustelle der neuen EZB den Besitzer gewechselt – und der verdoppelte die Miete. Der neue Vertrag läuft jetzt noch zwei Jahre. „Wenn der Vermieter dann nochmal verdoppelt, müssen wir aufgeben“, sagt Anzupow. „Dann kommt hier ein Butlers oder ein Vapiano rein, die zahlen das locker.“

Lieber würde er noch ein bisschen durchhalten, er würde für die EZB-Mitarbeiter sogar neue Regale aufstellen mit italienischen oder spanischen Büchern. „Aber auf das große Geschäft hoffe ich nicht.“

Schicksalsergeben erzählt Anzupow das, aber nicht deprimiert. Das meiste Geld verdient er sowieso längst mit Buchverkäufen im Internet. Er liebt seinen kleinen Laden, aber es gefällt ihm auch, dass sich in dem Viertel, wo er schon so lange wohnt, endlich einmal etwas tut. „Es ist toll, wie schön es hier wird“, sagt er. „Ich hoffe nur, dass nicht irgendwann die alten Bewohner vertrieben werden.“

Das hoffen auch ein paar Neu-Ostendler, die sich seit kurzem auf dem Danziger Platz angesiedelt haben. Der „Frankfurter Garten“ darf dort, mitten auf einem der hässlichsten Plätze der Stadt, seit neustem gärtnern. Blumen, Kräuter, Radieschen werden hier in Holzkästen gezogen, es gibt ein kleines Café, in dem sich die Nachbarschaft trifft. „Wir wollen einen Kontrapunkt setzen zur EZB“, sagt Ilona Lohmann-Thomas vom Verein. Es gibt eine begrenzte Nutzungserlaubnis bis zum Herbst 2014. Aber sie hofft, dass der Garten länger bleibt: zumindest bis die EZB bezogen ist. „Es wäre doch schön, wenn die Banker bei uns haltmachen und sehen könnten, wie eine Zucchini wächst.“

Aber wann werden sie kommen? Ende 2014, sagt die EZB. Rund um die Baustelle sind die Ostendler skeptisch. „Das wird nicht klappen“, munkeln sie. „2015 geht es los.“
Erfolgreiche Juden
Nach 1945 gaben jüdische Immobilienkaufleute Frankfurt sein heutiges Gesicht. Es sind Menschen wie Michael und Max Baum. Sie wurden reich, und die Stadt am Main wurde schön.
Von Rainer Hank

Als der Jude Max Baum aus dem fränkischen Marktbreit im Frühsommer 1933 mit einem kleinen Koffer in Haifa ankam, kannte er dort keinen einzigen Menschen. Er sprach kein Wort Hebräisch, war weder fromm noch Zionist. Israel blieb ihm fremd, die Mentalität, das Klima, einfach alles. Er bekam Malaria. Nachts träumte er von Deutschland.

Max Baum, Jahrgang 1906, mit seinem breiten bayerischen Dialekt, wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, Deutschland zu verlassen, hätte ihm nicht ein Sportskamerad, der mehr wusste, den Rat gegeben abzuhauen, wenn er nicht verhaftet werden wolle. „Mein Vater hat erst gemerkt, dass er Jude ist, als ihm gesagt wurde, jemand trachte ihm nach dem Leben“, erzählt sein Sohn Michael „Micky“ Baum.

Fünfundzwanzig Jahre blieb Max Baum in Israel, schlug sich durch mit allerlei Jobs und heiratete eine in Beirut geborene russische Jüdin aus gutem Hause, die polyglott war, aber leider kein Deutsch sprach. 1935 wurde eine Tochter geboren, 1946 Sohn Michael.

Im Jahr 1958 hielt es der alte Baum in Haifa nicht mehr aus, nahm Frau und Sohn und fuhr zurück nach Deutschland. Geld hatte der Mann keines; in Frankfurt gaben sie ihm 6000 D-Mark, wie jedem von den Nazis vertriebenen Deutschen. Das nannte sich Wiedergutmachung. In Israel durfte niemand wissen, was die Baums vorhatten: Micky flunkerte in der Schule, man ziehe nach Ashkelon bei Gaza. Juden, die das gelobte Land verlassen? Freiwillig zurück ins Land der Mörder? Undenkbar.

„Nach 1945 lastete auf Deutschland ein Cherem, ein Bann“ sagt der Historiker Dan Diner, der in Frankfurt nach dem Krieg aufgewachsen ist: „Von niemandem verhängt, war er doch allgegenwärtig.“ Wer zurückging, so Diner, musste mit dem heiligen Zorn der Juden rechnen, die sich geschworen hatten, das Land der Mörder auf immer zu meiden. „Abwesende Anwesenheit“ nennt Diner die Existenzform der Juden in Deutschland nach der Schoa. Bloß nicht groß auffallen, war die Devise, weder bei den deutschen Nichtjuden, noch bei den Juden außerhalb des Landes. Max Baum hielt sich daran. Er wurde Wohnungsmakler, ohne irgendeine Ausbildung, nahm sich einen Angestellten, und ließ den Sohn Michael eine Ausbildung zum Fernseh- und Nachrichtentechniker absolvieren. Handwerk hat goldenen Boden, hat er gesagt.

Im Jahr 1964, gerade einmal 58 Jahre alt, starb der alte Baum an den Folgen der Malaria, an den Folgen der Vertreibung. Dem Sohn hinterließ er nichts. Der musste mit 18 Jahren selbst für sich (und die Mutter) sorgen. Geholfen hat ihm keiner.

Michael Baum sollte einer der führenden Immobilienentwickler und Investoren in Frankfurt werden. Er, der Selfmademan, ist heute ein reicher Mann. Sein Sohn, geboren 1972, heißt Max wie der Großvater. Vor sechs Jahren hat ihm der Vater eine erfolgreiche Firma überlassen: eine mittelständische Unternehmung, wie sie typisch ist für die Branche. Baum junior macht heute einen Umsatz zwischen 20 und 40 Millionen Euro jährlich. Die Renditen seien, gemessen am Risiko, angemessen, sagt er. Die Entwicklung des Frankfurter Westhafens und große Flächen des Ostends von einer Industriebrache in schicke, angesagte Wohn- und Gewerbenachbarschaften sind unter anderem das Werk der Baums: Frankfurt hat sich in den vergangenen Jahren zum Fluss geöffnet. Und alle freuen sich.

„Ohne die Juden in Frankfurt hätte es dieses Frankfurt heute so nicht gegeben“, sagt Michael Baum. Es sind die jüdischen Immobilienunternehmer, die dem neuen Frankfurt sein Gesicht geben. Die Historiker pflichten Baum bei. Frankfurt profitierte immer schon wirtschaftlich von seiner Jüdischen Gemeinde. Geldgeschäfte waren ihr Metier. Mit seinen 30 000 Juden galt die Stadt am Main 1933 als eine jüdische Stadt. 1945 hatten etwa 160 Personen überlebt. Aber es dauerte nicht lange, bis die Stadt am Main wieder den Ruf bekam, die „jüdischste“ Stadt der alten Bundesrepublik zu sein.

Es waren indes nicht die von den Nazis aus Deutschland Vertriebenen, die nach Frankfurt kamen. So gesehen, ist die Geschichte der Familie Baum, so typisch sie einerseits ist, eine Ausnahmegeschichte. Typischerweise sind es überlebende Juden Osteuropas, die nach dem Krieg hier gestrandet waren und in den sogenannten DP-Lagern, den Lagern für „displaced persons“, landeten. Das größte von ihnen im Frankfurter Stadtteil Zeilsheim bot 4000 Flüchtlingen vorübergehend Unterschlupf. Die meisten dieser Flüchtlinge – ohne Bildung, ohne Geld, ohne Perspektive, aber mit der Erfahrung des Grauens – hatten vor, das Land wieder zu verlassen Richtung Amerika oder Israel. Nicht alle haben es geschafft. Aber alle saßen sie auf den sprichwörtlich gepackten Koffern und gaben ihren Kindern den Auftrag, ihr Leben so einzurichten, dass sie jederzeit aufbrechen und das Land verlassen könnten.

Bald waren einige dieser DP-Juden erfolgreich im Handel mit rationierten Gütern, einem nicht legalen Warentausch auf dem Schwarzmarkt, als Mittler zwischen amerikanischen GIs und Deutschen, ohne den nach Einschätzung von Cilly Kugelmann die deutsche Nachkriegsbevölkerung in noch größere Versorgungsnöte geraten wäre. Kugelmann wuchs nach dem Krieg als Kind polnischer Holocaust-Überlebender hier auf; heute ist sie stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums in Berlin. Ihre Eltern betrieben, immer am Rande der Insolvenz, einfache Gaststätten, eine „altdeutsche Bierstube“ zum Beispiel am Goetheplatz, mit Brauerei-Möbeln und düsterer Beleuchtung, wo es Schnitzel und später jugoslawische Ćevapčići gab. Die Kugelmanns haben nie im eigenen Lokal gegessen, sonder zu Hause; da gab es Osteuropäisches, „gefilte Fisch“ und solche Sachen.

In Frankfurt gestrandete Habenichtse waren beteiligt am Aufbau des Rotlichtviertels in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo sie Bars und Etablissements betrieben, in denen sich die Amerikaner vergnügten. Josef Buchmann zum Beispiel, der Auschwitz überlebt hat und, als er hier ankam, weder lesen noch schreiben konnte. Im Erdgeschoss eines Hauses in der Moselstraße richtete er einen Nachtclub ein, wo Josephine Baker tanzte und Marika Rökk sang. Später, nachdem er zu erstem Geld gekommen war, stieg auch Buchmann ins Immobiliengeschäft ein, wurde rasch ein reicher Mann. Viele dieser Juden, die in Frankfurt hängenblieben, stiegen später ins Immobiliengeschäft ein. Ignatz Bubis gehört dazu – als Präsident des Zentralrats der Juden Prototyp der Frankfurter Juden nach 1945: Vom Schmuck- und Edelmetallhandel war er in den Immobiliensektor gewechselt. Auch Moses Korn, der Vater von Salomon Korn (heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt), war erfolgreicher Immobilienkaufmann.

Warum es so viele von ihnen in das Häusergeschäft zog? Ein Beruf als Angestellter kam nicht in Frage, denn dafür brauchte man eine Ausbildung mit Schein und Zertifikat. Also blieb der Weg in die Selbständigkeit. Da braucht es keine akademische Vorbildung, sondern nur ein wenig unternehmerischen Mut zum Risiko. Was hatten sie schon zu verlieren? Die Stadt Frankfurt war zerstört und musste neu aufgebaut werden, und das Immobiliengeschäft ist relativ simpel, überschaubar, aber ertragversprechend. „Hier gab es den größten Hebel“, sagt Projektentwickler Baum: Wenn man es einigermaßen geschickt anstellte, kam man schnell zu Geld. Renditen von bis zu 30 Prozent waren mit Häusern in diesen Nachkriegsjahren zu erzielen.

Hinzu kommt: Niemand hatte genug Kapital, um ein Geschäft allein aufzuziehen, erzählt Cilly Kugelmann. Und die Banken waren knausrig mit Krediten. Partnerschaften entstanden, die über Freunde, Bekannte, Familienmitglieder oder ehemalige Mithäftlinge vermittelt wurden. Man kannte sich aus der jüdischen Gemeinde, traf sich am Schabbat, auch wenn man nicht sonderlich fromm war, und half sich aus.

Diese Partnerschaften erforderten gleichermaßen einen Vorschuss an Vertrauen und ein gesundes Misstrauen, ging es doch immer um Geld. Betrug und Übervorteilung waren allgegenwärtig. Da haben sie sich ihre Kompagnons eben bei den Freunden aus der Jüdischen Gemeinde gesucht, am besten mit derselben Nationalität. Polnische Juden nahmen polnische Juden als Partner ins Geschäft. Rumänen und Polen als Geschäftspartner, das ging gar nicht, heißt es.

Angesichts der immensen Bedeutung für Frankfurt ist die Wirtschaftsgeschichte der erfolgreichen Juden seit 1945 jämmerlich schlecht erforscht. Kein Wunder: Die Gründer haben wenig geredet, weder über ihre Erfahrungen in den Vernichtungslagern, noch über die Anfangszeiten in Frankfurt. Das Leben zwischen Halblegalität und ersten finanziellen Erfolgen im Bahnhofsmilieu war ihnen im Nachhinein peinlich. Dabei hatten sie doch nur das, was das Schicksal ihnen bot, am Schopfe ergriffen.

Später ließ die „abwesende Anwesenheit“ sich nicht mehr länger durchhalten. Das Drama der Frankfurter Juden bestand darin, dass gerade ihre Präsenz in Branchen wie dem Immobiliengeschäft, in denen sie ebenso aktiv wie erfolgreich waren, vor allem im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren dazu führte, dass sie ganz wider Willen sichtbar und damit öffentlich wurden, sagt der Historiker Dan Diner.

Die Immobilienunternehmer selbst, die im Auftrag der Stadt Frankfurt (später des Landes Hessen) das bürgerliche Westend in ein Büroviertel umzuwandeln suchten, hatten daran gewiss kein Interesse. Aber die Studenten, die gegen „jüdische Spekulanten“ wie Ignatz Bubis demonstrierten und illegal Häuser besetzten, machten das Thema öffentlich. Sie attackierten die Immobilienhändler als Repräsentanten des kapitalistischen Systems. Unter ihnen waren auch die studierenden Kinder der Hausbesitzer, die aus der jüdischen Ethik eine „Änderung der Ausbeutungsverhältnisse“ (Micha Brumlik) ableiteten.

Eine sich „Aktionsgemeinschaft Westend“ nennende Gruppe von linken Aktivisten und Hausbesetzern führte akribisch Buch über die Investoren. Nach deren Aufzeichnungen hießen die wichtigsten unter ihnen Hershkowitz, Buchmann, Rubinstein, Bubis, Graumann, Gruza und so weiter. Der antisemitische Unterton der Hausbesetzer – natürlich gab es auch nichtjüdische Spekulanten – war nicht zu überhören: Ende 1972 schrieb der SPD-Ortsverein Ostend einen Brief an den hessischen Innenminister, in dem die Sozialdemokraten den „Wirtschaftsverbrecher“ Bubis angriffen und seine Spende an den städtischen Sozialfonds und sozialen Wohnungsbau als „Judaslohn“ bezeichnete. Bubis konterte stets trotzig: „Ja, ich spekuliere, na und?“ – und verwies darauf, dass es christliche, persische und jüdische Immobilienspekulanten gab.

Rückblickend kommt dieser Auseinandersetzung für die alte Bundesrepublik eine „ikonische Bedeutung“ (Dan Diner) zu. Dabei ergab sich die größte Sichtbarkeit Mitte der achtziger Jahre durch die geplante Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, hinter dessen Protagonisten, einem „reichen Immobilienspekulanten“, mit gutem Grund immer wieder Buchmann oder Bubis vermutet wurde.

Es sei die Ausnahmesituation des bundesdeutschen Wirtschaftswunders gewesen, die ausgerechnet Juden in Frankfurt reich werden ließ, meint Cilly Kugelmann: Diejenigen, die den Traum verwirklichten und nach Amerika, Israel oder anderswo fortkamen, seien womöglich dort glücklicher, aber gewiss nicht wirtschaftlich erfolgreicher geworden, meint die Museumsdirektorin.

Es waren die Juden der ersten Generation, die aktive Unternehmer geworden waren. Die zweite Generation, nach dem Krieg geboren, hat studiert, mauserte sich intellektuell und lebt heute vom Ertrag aus der Verwaltung des von den Eltern geschaffenen Vermögens.

Hingegen gibt es nur wenige Frankfurter Juden, die das Projektentwicklungsgeschäft in zweiter oder dritter Generation aktiv betreiben: Ardi Goldman zum Beispiel, geboren 1962, vom Typ her ganz anders als die Baums, aber mit ihnen geschäftlich befreundet, ist ein munterer Tausendsassa, ein ewiges Stehaufmännchen mit auffallendem Äußeren. Er liebt die Klatschspalten, nimmt die Nacht wie den Tag, das Öffentliche wie das Private und hat Frankfurt einige der schrillsten neuen Locations beschert: den „Cocoon-Club“ im Osten, das „Goldmans“ (ein außergewöhnliches Restaurant) und zuletzt vor wenigen Tagen das „Ma“, ein Einkaufszentrum in der Neustadt, das aus dem Umbau der alten Diamantenbörse hervorgegangen ist.

Goldman, ohne Uni-Abschluss, aber mit beträchtlichem Vermögen des früh bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Vaters, reicht es nie, nur als Investor aufzutreten. Als „Lebensraumgestalter“ tritt der „Meister der 1B-Lagen“ stets mit dem Anspruch auf, einem ganzen Viertel seine Seele einzuhauchen.

Vom Typ her ähnlich wie Goldman, aber vom Format mindestens eine Klasse drüber, ist Aby Rosen, 1960 in Frankfurt geboren: Ihm freilich wurde die Stadt am Main rasch zu eng. Heute lebt der „Party Boy“ als extrem erfolgreicher Immobilienmann in New York, wo er sich als „Real Estate Titan“ („New York Times“) feiern lässt.

Max Baum, geboren 1972, der Enkel des Auswanderers und Rückkehrers Max Baum, ist da, wie gesagt, ganz anders, nüchterner, bodenständiger, gleichwohl nicht ohne das nötige Selbstbewusstsein. „Ich will später mal im Immobiliengeschäft ganz groß werden“, ließ er schon als Dreizehnjähriger die Festgesellschaft seiner Barmizwa-Feier (das jüdische Pendant zur christlichen Konfirmation) wissen. Wenn man heute mit ihm durch den neuen Frankfurter Westhafen flaniert oder ihn im schicken Büro an der Kennedyallee besucht, hat man keinen Zweifel daran, dass er sein Ziel nicht aufgeben wird. Mit simplen Häusern gibt der junge Baum sich nicht zufrieden. Eines seiner Lieblingsobjekte, der „Westhafenpier“ mit Büro- und Gastronomieflächen und einem Investitionsvolumen von mehr als 70 Millionen Euro, steht auf Stelzen, musste teuer gegen Hochwasser abgesichert werden und hat sogar eine aufwendige, vermutlich weltweit einzigartige Konstruktion zur Kohleandienung für das dahinterliegende Heizkraftwerk.

Max Baum (und seinen Architekten) machen solche Tüfteleien Spaß. Einfach nur Häuser zu bauen oder Immobilien zu verwalten würde ihn langweilen. Die Zeiten sind günstig: „Betongeld“ in Hülle und Fülle aus dem In- und Ausland drängt in die Häuser Frankfurts. Der junge Baum vergisst indes nie zu erwähnen, wem er die Chance zu diesem Abenteuer verdankt. Seinem Vater, der (wie viele der Frankfurter Juden) aus dem Nichts und nur aus eigener Anstrengung und Leistung sein Vermögen geschaffen hat. Menschen, denen Frankfurt sein heutiges Gesicht verdankt.

Spritzen, Sex und Szeneköche
Im Rotlichtviertel gibt’s Sex, Drogen und Gewalt. Und immer mehr Menschen, die im trendigsten Teil der Stadt wohnen wollen.Von Hendrik Ankenbrand

Wenn diese Stadt ein Labor ist, ist das die Laborküche: Der „Club Michel“ öffnet donnerstags, freitags, samstags. Münchener Straße 12, erster Stock. Im Bahnhofsviertel. Frankfurts Rotlichtbezirk.

Michel sprechen die Clubbetreiber wie den französischen Frauennamen aus: Michelle. Doch die Code-gesicherte Tür bewacht keinen Puff, sondern ein Szenerestaurant. Der Blick durchs Panoramafenster geht hinunter auf Frankfurts hippsten Boulevard. Hier entsteht gerade das neue In-Quartier der Stadt. Ein Ort, wie es ihn in anderen Städten nie geben wird.

Nirgendwo sonst ist man näher dran an allem, was geschieht in der Stadt, nirgendwo sonst kann man so luxuriös leben: riesige Gründerzeitwohnungen locken längst die Gutverdiener. Meist sind es Kreative. Komplette Familien noch selten.

Denn wer ins Bahnhofsviertel zieht, der wagt ein Experiment. Überwacht wird es in der Universität Frankfurt. „Kinder im Bahnhofsviertel“ heißt das Forschungsprojekt. Das Zwischenergebnis stellt fest, die „soziale Kontrolle“ im Viertel funktioniere: Wer sich hier auf der Straße an Kindern vergreift, bekommt es mit türstehenden Kickboxern zu tun.

Andererseits ist dann mit dem Kinderwagen zuweilen auch nur schwer durchzukommen. An einem schönen Mainachmittag war zum Beispiel wieder mal die Moselstraße mit rotem Flatterband abgesperrt, nach einem mit Schlagstöcken ausgetragenen Streit vor dem Irish Pub waren Schüsse gefallen. Eine Kugel traf einen Sozialarbeiter vor dem Café Fix, einem Kontaktladen für die 4000 Süchtigen, die regelmäßig zwischen Nidda- und Gutleutstraße Drogen kaufen und konsumieren. Ein „Zufallsopfer“. Was man von dem Spielhallenbesucher nicht sagen konnte, der eine Woche zuvor mit einer abgeschlagenen Bierflasche im Hinterzimmer niedergestochen wurde.

Aber auch mitten auf der Kreuzung gehen manchmal zwei Viertelbewohner mit den Fäusten aufeinander los. Und wer in der Münchener Straße lebt wie der 37 Jahre alte WG-Bewohner David Meves (Nachbarn: DJ/Filmbranche/Filmbranche), lernt zudem schnell den Unterschied zwischen deutscher Küchenschabe und ihrer Artgenossin aus Asien kennen: Die ist doppelt so groß, eifriger im Eierlegen und dank der Korianderpalettenlieferungen an die Asia-Imbisse häufiger anzutreffen als etwa in Frankfurts Westend. Meves hat sein Restaurant trotzdem zehn Hausnummern von seiner Wohnung entfernt aufgemacht: „Ein spannender Ort.“

Der Betreiber des Club Michel ist ungelernter Koch. Geburtsort: Berlin. Zur Jahrtausendwende hat er in der Hauptstadt gelebt, Frankfurt findet er intimer: „Wir sind eine Familie.“ Vergangenen Oktober zog er mit DJ und Gastronom Ata Macias im vormaligen Modeshow-Room sein Restaurant hoch, einen „Verein zur Förderung der Esskultur“, der seine Mitglieder per Mail zum Dinner einlädt. Mitglied kann jeder werden, der sich ins Internetformular einträgt.

Die sieben Euro für ein Hauptgericht im „Michel“ geben 300 Meter entfernt die Hedgefondsmanager im „Ivory Club“ neben der Deutschen Bank gerade mal für das Parkservice-Trinkgeld aus. Wie sonst wohl nur in Rio sind in Frankfurt Arm und Reich so nahe beieinander wie an der Grenze zwischen Banken- und Bahnhofsquartier.

Das „Ivory“ kocht auf den ersten Stern zu, der „Michel“ serviert „Pasta Ottimo“. Die Musik ist auf jeden Fall Weltklasse. Clubbetreiber Macias besitzt mit dem „Robert Johnson“ den besten Technoclub Deutschlands. In „Life Saver“-Nächten legen dort DJs auf, vorher kocht Meves im Bahnhofsviertel vegan. Reservierungen werden sicherheitshalber nicht angenommen, um den Laden vollzukriegen. Verblüffenderweise muss der späte Gast trotzdem auf dem grünen Ledersofa vor den Tischen und Bänken warten. Hier hipstert es gehörig.

Noch kommen die meisten Gäste von außerhalb, aus dem Nordend und aus Bornheim. Von den 600 Prostituierten meist lateinamerikanischer Herkunft schaut selten eine im Club vorbei. Mitbetreiber Macias jedoch wohnt ein paar Hausnummern weiter über seiner Bar „Plank“, noch so ein Szenetreffpunkt. In jüngster Zeit wurden davor bebrillte Menschen im Anzug auf der Straße beim Rothaus-Bier gesichtet. An der Elbestraße geht es an glühenden Crackpfeifen vorbei in die gerade geöffnete „Kiez Praline“, ebenfalls kein Puff, sondern Bar. Die Mieten im Viertel steigen.

Wiederholt sich etwa bald hier die Geschichte? Als der Centralbahnhof – Deutschlands größter – 1888 fertiggestellt war, klaffte auf dem Weg in die Innenstadt eine Lücke, die in den folgenden zehn Jahren zum eleganten Gründerzeitviertel ausgebaut wurde. 11 000 Menschen wohnten in den schönen Häusern mit viel Stuck, die prächtige Kaiserstraße mit Luxusläden war Visitenkarte der Stadt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Rotlicht an. Die amerikanischen GIs nutzten das Bahnhofsviertel als Spielwiese wie die Seeleute die Hamburger Reeperbahn. Laut und lustig ging es zu. Das „Cream Music“ in der Taunusstraße aus der Zeit steht noch, in dem Elvis Presley Verstärker und Gitarre erwarb.

Die Zahl der Bahnhofsviertel-Bewohner sank auf 2000. 84 Nationen gibt es im Viertel, die Deutschen stellen keine 30 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl der Betten übersteigt die der Anwohner um den Faktor vier.

Doch jetzt passiert was. Die Zahl der Bahnhofsviertel-Bewohner wuchs zuletzt um 30 Prozent. Frankfurt wächst auch in anderen Teilen, aber nicht so rasant. Wer spüren will, dass er lebt, zieht an die Münchener Straße. Dort beobachtet Koch Meves, wie sich sein Viertel verändert. Die Bürgersteige sollen jetzt breiter gemacht werden. Bis vor kurzem reihten sich neben Ein-Euro-Läden die dunkeldeutschen Eckkneipen: Kronprinzeneck, Main Expresso. Schwarze Löcher, in denen man allein vom Atmen besoffen wird. Frankfurts Pilsmeile. Geblieben ist von ihr nur das Moseleck.

An der Niddastraße fahren weiter die Polizei-Mannschaftswagen zur Großrazzia vor, doch das Blaulicht wirkt heute wie ein Relikt aus den Zeiten der Rosemarie Nitribitt. Hunderte Digitalfotos werden bei den Events mit der Ordnungsmacht geknipst. Folklore.

In ihrem heißen, schmutzigen Herzen erfindet sich die Stadt gerade neu. Das haben andere Städte vor Frankfurt getan. Neu ist, dass der kommerzielle Aufstieg in der Hauptstadt des Kapitals nicht zu Lasten der Vielfalt gehen soll. So will es die Politik, so wollen es die Bewohner. Reicht das?

„K58“ heißt die „Luxusresidenz an Frankfurts Prachtboulevard“, Kaiserstraße 58, umgeben von Sexshops und Wettbüros. An der Elbestraße stehen die Bordelle. Fünf Minuten vom Club Michel sind schon fast alle der 32 lichtdurchfluteten Eigentumswohnungen und der sechs Penthäuser verkauft Über 200 Quadratmeter Wohnfläche plus Dachgarten bieten traumhaftes Wohnen über den Dächern. Das Problem ist eher der Boden. „Lebendig“ und „gewachsen“ sei das Bahnhofsviertel, deuten die Makler den offenen Drogenstrich auf der Straße um. Das Carrée habe „starkes Zukunftspotential“.

Wer Anzeichen für Gentrifizerung sucht, der findet sie in solchen Sätzen. Die Stadt steht vor der Quadratur des Kreises. Insgesamt hat sie in zehn Jahren 20 Millionen Euro an Investoren gezahlt, die Wohnungen saniert und Gewerberaum in Wohnraum ungewandelt haben. Fünf Millionen kamen nochmal vom Land obendrauf. Hinterhöfe wurden begrünt. Die Anzahl der Wohnungen stieg um 20 Prozent.

Das ist ein Erfolg, trotzdem will Olaf Cuniz, einer von Frankfurts Bürgermeistern, zuständig fürs Bauen und Mitglied der Grünen, nun lieber erst mal überprüfen, wie weit die Yuppisierung schon vorangeschritten ist: „Das Bahnhofsviertel soll kein zweites Westend werden.“ Im Rathaus wollen sie ein Überwachungssystem einrichten, das Alarm schlägt, wenn der Mikrozensus viele Wegzüge einkommensschwacher Bewohner registriert.

Cunitz ist im Westend zur Schule gegangen. Achtundsechzig ist er geboren, außer der Jahreszahl verbindet ihn mit der damaligen Hausbesetzerszene nicht viel. „Kahlschlag-Cunitz“ haben sie ihn neulich im Nordend geschimpft. Dabei habe die einstige Hochburg der Linken den Prozess der Gentrifizerung doch längst hinter sich, findet er. Mit Wohnungsbauinvestoren hat er keine Probleme. Die sollen ruhig Geld ins Bahnhofsviertel stecken. Auf der anderen Seite haben neue Bewohner auch neue Ansprüche.

Anwohner und Geschäftsleute beschweren sich immer mehr über den Drogenkonsum und -handel. Die benutzten Spritzen mit aufgesteckten Kanülen, Crackpfeifen, Bierflaschen und blutige Taschentücher auf der Straße seien eher mehr geworden, finden die Kritiker. Überall im Viertel werde gegen Türen und Wände gepinkelt. „Das ist eben Realität“ – so locker wie Michel-Koch Meves sieht es nicht jeder.

In Hamburg transportierte die Stadt die Fixer hinterm Hauptbahnhof in ein reservatähnliches Gelände ab, eine Art rechtsfreien Raum, aber das kommt für den Grünen Cunitz nicht infrage. „Das Bahnhofsviertel wird mittelfristig Drogen- und Rotlichtbezirk bleiben“, sagt der Politiker. Ladenbesitzern, die über die offene Drogenszene klagen, hält er entgegen dass ihre Mieten zuerst steigen, würden, würde das Viertel seinen Charakter radikal ändern und Fixerstuben und Bordelle zumachen. Überhaupt habe die Stadt die Szene schon stark eingedämmt.

So abschreckend wie Anfang der neunziger Jahre ist sie nicht mehr. Auf der Münchener Straße, gleich beim Club Michel um die Ecke, macht jetzt ein Deli auf, ein Delikatessenrestaurant. Michel-Koch Meves fürchtet die Konkurrenz nicht. Deren Kundschaft sei ganz anders. „Schicker.“

 

FRANKFURTS NACKTE ZAHLEN [jpg]

Write a response

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Close
myplaces
weltweit. wissen. wohin.
© 2023
Close