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Pommidoro | Rom

Ein klassischer Familienbetrieb wie er so nur in Italien existiert. In einem untouristischen Viertel in der Nähe des Hauptbahnhofs geht hier die Nachbarschaft gut essen – und alle, die den liebevollen Seite 3 Artikel in der SZ gelesen haben (s.u.).   97

Piazza dei Sanniti, 44,
Rom, Italien
Tel. 06-4452692

 

[plain]Bei der Königin der dreigezinkten Gabel
Wie Köchin Anna nach 160 000 Portionen Spaghetti alla Carbonara über das Leben denkt und was das Universum ihrer erstaunlichen Familie zusammenhält.
Wo keiner hingeht (I. ): Der Sommerkorrespondent lüftet in einer römischen Trattoria die Topfdeckel

Von Klaus Brill

Rom, im August – Anna steht am Herd und hält ihre dreigezinkte Gabel in der Hand. “Schau her”, ruft sie, hebt die Pfanne von der Flamme und schwenkt sie, daß die Speckstreifen im zischenden Fett umeinandertorkeln. “Schweinebacke muß das sein, an der Luft getrocknet, nicht geraucht, und kein Bauchspeck. ” Nur Schweinebacke kommt in Frage, die aus den Abruzzen; hat sie am Morgen in Moricone draußen aus dem Weinkeller geholt. Und diese Schweinebacke wird hier nicht auf Vorrat geschnitten, sondern saftig heruntergesäbelt bei jeder Bestellung, die die Schwiegersöhne aus der Außenwelt in die Küchenhitze rufen. Anna, gut gelaunt wie immer, ist dabei, die circa 160 000. Portion ihrer berühmten Spaghetti alla Carbonara zuzubereiten. Das Ei ist schon geschlagen, ein Ei aus dem eigenen Hühnerstall. Mit dem Sieb hebt sie die Spaghetti aus dem Wasser, läßt sie auf die Schweinebackenstreifen gleiten, rührt um, wirft Pfeffer darüber und mischt, die Pfanne frei in der Luft haltend, das Ei darunter. “Wichtig ist, daß es nicht gebacken wird. ” Schaumig hat das Ei zu bleiben, rutschen soll die Carbonara, wenn der Käse draufgerieben wird. “Man muß den richtigen Augenblick finden”, ruft Anna, blickt herüber, hebt die Gabel und lacht. Diese Gabel: Drei lange Zinken hat sie, das ist wichtig, zweigezinkte Kochgabeln lehnt Anna ab. Und wenn der Herr Redakteur, vom Linksblatt l’Unità, der da im dunklen Anzug und mit weißem Hut zur Küche hereinschaut und “Guten Tag, Königin” ruft, mit seiner Anrede nicht völlig danebenliegt, dann ist die dreigezinkte Gabel das Zepter, mit dem Königin Anna in dieser Küche im silbrigen Glanz der Stahlverkleidungen regiert.

Draußen aber, über den Tischen, herrscht König Aldo, die gelbe Serviette geschultert, die Schürze vorgebunden, die Brille baumelt vor der Brust an einer Schnur. 61 Jahre alt sind Aldo Bravi und Anna Desideri, und seit ihrer Hochzeit vor 40 Jahren spielt ihr Leben unter den Gewölben der Trattoria Pommidoro im touristenfernen Stadtteil San Lorenzo, der zwischen Roms Hauptbahnhof und Hauptfriedhof gelegen ist. Sie haben den Pommidoro, von Aldos Ahnen ererbt, zu einem Qualitätsbegriff römischer Traditionsküche gemacht. Man ißt dort gut, zahlt normale Preise und hat zudem noch teil an einer bunt gemischten Gesellschaft, die als Netz von Freundschaften um die Wirtsfamilie geknüpft ist. Eine Schaubühne italienischer Lebensart tut sich auf an der von parkendem Blech beengten Piazza dei Sanniti – verheißungsvolles Ziel für eine Reportage-Expedition ins Innere eines Eßlokals, von dem man sonst nur das Äußere und die Erzeugnisse wahrnimmt. Auf die Küche kommt es an, diesen Ort der unzählbaren Wiedergeburten, dessen Lebenshauch die Hitze ist. “Komm mal her”, ruft Anna und winkt. Auf dem Herd sind alle acht Gasflammen aufgedreht, vier für das ständig kochende Wasser der verschiedenen Nudelsorten, vier für die Saucen und das Fleisch. Tritt man hin zu diesem Arbeitsplatz, zuckt man zurück vor der schmerzenden Feuerglut. Anna erwehrt sich ihrer Anfechtungen, indem sie literweise Wasser trinkt und öfters einen scherzhaft abgetönten Seufzer der Beschwernis ausstößt. Aber könnte es nicht mehr sein als einer ihre Scherze, daß ihr Gesicht so völlig faltenfrei geblieben sei, weil es so intensiv im fetten Dunst gebadet wird? Auch Frau Ciampi, die Gattin des Schatzministers, der hier mitunter ißt, hat unlängst ihren Teint bestaunt. Anna kocht im fröhlichen Bewußtsein, daß sie eine hohe Kunst ausübt. Hätte sonst der Chef einer Kochschule aus New York sie filmen lassen, wie sie ihre Carbonara macht? Wäre sonst das Lokal jeden Abend voll? Und würde Anna sonst sich täglich außer sonntags in diese Hitze stellen, vom Vormittag bis in die Nacht? “Ich weiß nicht, woher sie all die Kraft nimmt”, sagt Aldo. “Anna ist ein Motor, der nie anhält. ” Und jeden Abend wird der Motor auf höchste Tourenzahl gejagt, wenn 100 Gäste an den Tischen sitzen, wenn die Kellner laufend neue Ordern in Annas Flammen-Baldachin hinüberschreien.

Der Pommidoro ist ein klassischer Familienbetrieb, wie es sie in Italien zu Hunderttausenden gibt. Kellner sind Aldos und Annas Schwiegersöhne Amedeo, Mario und Valentino. Mittags hilft auch Tochter Dina, abends springen bei Bedarf auch deren Schwestern Sandra und Rossana ein. Es bedienen ferner Toni, ein Neffe Marios, und Livio, der ein Cousin Amedeos und ein Schwager Marios ist. Und Benito, der im offenen Kamin über Holzkohlenglut die Steaks und Fische brät, ist ein Onkel Amedeos. Aldo, der padrone , ist der Libero. Hier nimmt er Vorbestellungen entgegen, empfängt die Gäste, schneidet Spanferkel auf; da füllt er Wein ins Faß, putzt Muscheln, hackt Ochsenschwänze klein, sitzt am Schreibtisch. Nur Aldo und Mario stellen Rechnungen aus, nur Aldo und Amedeo schneiden Schinken auf, und zwar von Hand. Als Küchenhelfer sind Zamir und Ardian eingestellt, zwei junge Albaner. Ardian wäscht Geschirr, richtet Röstbrot mit Tomaten her und geht den Kellnern bei den Nachspeisen zur Hand. Zamir schafft Fleisch herbei, schlägt Eier für die Carbonara, spickt Meerestiere auf die Grillroste, streut Sägemehl am Boden aus und springt behende ein, wo immer eine Lücke klafft. Zamir hilft Anna, die Bestellungen der Schwiegersöhne lauthals zu memorieren, und Zamir ist der einzige, der an die Töpfe darf. Denn eigentlich herrscht Anna dort allein und unumschränkt. “Ich muß frei sein können”, sagt sie. Als sie vor 30 Jahren ihre Tochter Rossana gebar, stand Anna noch am Abend vor der Entbindung am Herd – und am Tag danach schon wieder. Die Köchin tummelt sich geradezu im Streß, nie würde man vermuten, daß sie einmal wegen Herzbeschwerden sieben Jahre ausgesetzt hat; damals war der Pommidoro vermietet und verkam. Heute zeigt nur ein Furunkel an Annas Stirn, wie Streß verwunden kann, wenn die Stunde der größten Anstrengung gekommen ist. Abends gegen zehn, wenn im Hauptlokal, im Keller und auf der Piazza kein Stuhl mehr frei ist; wenn der Hunger der Erwartungsvollen wie eine Brandung an den spiegelblanken Küchentisch heranrollt; wenn jeder an jedem Tisch eine andere Pasta bestellt – dann ballt sich die Anspannung, erzittert die Küche im schöpferischen Chaos. Dann kommt es vor, daß für den Bruchteil einer Minute neun Menschen gleichzeitig die Gänge zwischen Eingang, Spüle, Kühlschrank, Herd und Küchentisch füllen; daß Valentino Brot schneidet und Amedeo mit blanker Hand Salat mischt; daß Ardian Öl zapft und Zamir Teller in den Lift zum Keller schiebt; daß Mario nach Gläsern klaubt, Livio nach Rouladen ruft und Toni vor dem Ventilator Kühlung sucht; daß Aldo Schwertfisch zerteilt und Anna mit dem Dreizack im grünen Sugo rührt, dessen Rezept sie nicht verrät.

Nur einmal Napoli

Wer da die verwegene Idee hatte, man könnte als Reporter einmal mitarbeiten in dieser Küche, Auberginen schneiden und Zucchini-Blüten putzen, der kapiert rasch, wie diese Eingriffe in die Rhythmen einer eingeübten Gemeinschaft, deren aufgepeitschte Energien sich ständig neu zu einem Wimmelbild zusammenfügen. Es ist schon aufregend genug, mitschwitzend ein paar Tage zwischen Abfalltonne und Küchenwaage, auszuharren und hineinzusehen in das bebende Universum. “Schau hier, zum Kosten”, ruft Anna und reicht Tagliolini mit Tintenfisch-Sugo herüber. Und danach Fettuccine mit Gemüsesauce. Und eine Gabel Rindsgeschnetzeltes. Und Wildschwein. Und Bries. Und Kutteln. O Santa Trattoria, schön ist dieses Leben, doch es ist auch hart! Sie wissen es. Ja, “es ist ein zu großes Opfer”, sagt Mario, als sich nach Mitternacht die Kellner und die Küchenhelfer mit Bucatini all’amatriciana zum Essen setzen. Schichtarbeit heißt Verzicht, wer im Restaurant beschäftigt ist, kommt nicht ins Kino, geht nicht aus, sieht selten fern. “Es fehlt die Freiheit”, hat Anna gesagt, als sie und Aldo nach der Mittagsschlacht draußen unterm Sonnenschirm mit dem jungen Paar aus Neapel plauderten. Ach, Neapel. Ein einziges Mal war Anna dort, auf der Hochzeitsreise. Von Rom, der Stadt, in der sie 15 Stunden am Tag verbringt, hat sie weniger gesehen als ein Drei-Tage-Tourist, “das tut mir weh”. Im Petersdom war sie zuletzt als 15jährige. Nie in der Oper, nie französisch gegessen, “und vielleicht bin ich die einzige Frau, die nie ein langes Kleid angezogen hat, um auf ein Fest zu gehen”, sagt Anna. Dennoch kommt sie wie Aldo und die anderen in den Genuß von Geselligkeiten, um die mancher sie beneidet.

Immer war der Pommidoro ein Lokal, in dem alle Klassen willkommen waren, die Arbeiter des Viertels, die Professoren der nahen Universität, die Künstler aus dem Atelierhaus gegenüber. Im Pommidoro ißt Ceccio, der Anstreicher, der mal im Gefängnis Regina Coeli einsaß, so gut wie Angelo, der Biologieprofessor, und Claudio, der Photograph. Alles Freunde, amici . Nette Gäste gehören bald zur Familie, wie Christian, der Münchner Photograph vom Atelierhaus drüben, der sogar nach Mitternacht noch zu essen bekommt. Sind die Bestellungen verebbt und die Gasflammen herabgedreht, hocken Anna und Aldo sich hinaus vor die Tür oder zu den Freunden an den Tisch. Jeder Tag bringt Begegnungen, Wiedersehen mit den amici , die sich für Annas Tafelfreuden mit Gefälligkeiten revanchieren. Wie viele amici haben sich nicht eingesetzt, um den zuständigen Dezernenten der Stadt zu überzeugen, daß Aldo nun endlich die Genehmigung für eine wetterfeste Überdachung der Lokalfläche auf der Piazza braucht! Und wie hat erst der amico Medizinprofessor geholfen, der gestern in die Küche kam und Anna begrüßte. Heute mittag hat er ihr einen Kliniktermin freigehalten, um ihr Bandscheibenleiden zu untersuchen und ein Pflaster aufzukleben, umsonst und blitzeschnell, weil Anna ja zurück zum Herd mußte. So funktioniert Italien, und anders funktioniert es nicht. Ja, es hat seine schönen Seiten, das Trattoria-Leben. Beispielsweise wirft das Lokal ein schönes Geld ab. Aldo und die Schwiegersöhne fahren allesamt Mercedes, auch aus Wertschätzung für deutsche Art und Arbeit, wie er sagt. Die Familie besitzt ein paar Immobilien in Rom und in Annas Heimatdorf Moricone, draußen im Sabiner-Land, und wenn Aldo, der passionierte Jäger, sich für 10 000 Mark einen Jagdhund kaufen möchte, ist das finanziell kein Problem. Die eigentliche Genugtuung aber sei etwas anderes, sagt Aldo, während er an einem der Tische auf der Piazza die eben eingetroffenen Steinpilze aus Kalabrien säubert. Daß man Anerkennung bekommt; daß eine Zeitschrift das Lokal empfahl; daß der spanische Regisseur Pedro Almodovar, ein amico, im Fernsehen vom Pommidoro sprach; daß TV-Stars zum Essen da waren, auch der Komiker Benigni und der Verleger Einaudi. Der Uni-Rektor kommt, der Bezirkspräsident, ein paar Politiker, berühmte Künstler wie Nunzio und Pizzi Cannella. “Wenn ich diesen Beruf nicht hätte, dann würde ich in meinem bescheidenen Leben diese Leute nie treffen”, sagt Aldo. “Wenn einmal Helmut Kohl in Rom wäre und zum Pommidoro käme – da würde ich mich aufpumpen!” Früher war auch der Dichter und Filmer Pier Paolo Pasolini regelmäßig zu Gast, oft hat Aldo mit ihm geplauscht. Einmal brachte er Maria Callas mit. Und 1976, am Vorabend seiner Ermordung, aß Pasolini im Pommidoro wie üblich Beefsteak mit Mozzarella; der Scheck, mit dem er zahlte, 11 000 Lire, hängt bis heute eingerahmt am Kücheneingang. Solch ein Souvenir entschädigt für Strapazen, die nie enden. Es ist ja nicht vorbei, wenn nachts um halb zwei der Rolladen der Eingangstür zu Boden rasselt und die Schwiegersöhne die Mercedesse anwerfen.

Während sie die 43 Kilometer hinausfahren nach Moricone, wo sie alle wohnen, während Aldo auf dem Rücksitz kurz einnickt, ist ein Gewährsmann schon unterwegs zum Schlachthof, um frisches Lammgedärm zu holen. Angekommen auf dem Landgut, das Aldo und Anna sich außerhalb Moricones auf fünf Hektar grüner Einsamkeit errichtet haben, füttert Aldo noch im Lampenlicht die Hunde im Zwinger, und Anna schaut nach der Volière, in der sie bunte Vögel hält. Moricone ist Heimat, Flucht- und Ruhepunkt, auch Rohstoffbasis. Aldo hat hier draußen den Wein gepflanzt, den er im Pommidoro ausschenkt, von hier kommt das Öl, hier wachsen die Desserts auf Bäumen: Birnen, Feigen, Pfirsiche oder Kirschen. Ardian und Zamir, die beiden Küchenhelfer, pflücken das Obst am anderen Morgen, schütten den Hühnern die mitgebrachten Essensreste aus dem Pommidoro hin, sammeln die Eier aus den Nestern, zapfen Wein. Beim Bäcker im Ort haben sie schon einen Sack frisches Brot geholt, Aldo hat Fisch bestellt am Telephon, und Anna füllt eine Waschmaschine, die sie erst nächste Nacht leeren wird; gebügelt wird am Sonntag.

Wer ist der Patriarch?

Kaum sechs Stunden hat die Ruhe gewährt, schon ist ein neuer Arbeitstag im Rollen, schon sitzen wir wieder im Mercedes Richtung Rom, unterwegs zum Großmarkt in Santa Lucia, um kistenweise Salat, Gemüse und Kräuter zu laden. “Das ist mein Moment der Entspannung”, sagt Anna, während sie auf dem Beifahrersitz die Zeitung entbreitet. Und Aldo, jetzt am Steuer, knurrt: “Ich habe keinen Augenblick Freiheit. ” Aldo hat, kaum daß der Rolladen des Pommidoro wieder hochgezogen ist, zu tun mit Lieferanten. Die Lämmer aus dem Molise treffen ein, das Schweinefleisch, Kaffee, Mineralwasser, gereinigte Tischdecken. Aldo kontrolliert, man muß auf der Hut sein “in diesen unehrlichen Zeiten”. Vom Pasta-Lieferanten verlangt er, daß der die handgemachten Nudeln in einem besonderen, unüblichen Maß schneidet, damit er ihm keine Reste von gestern andrehen kann. Und bezahlt wird sofort in bar, damit es hinterher keine Händel gibt. Es geht auf elf zu, Anna wirft die Gasflammen an, greift zur dreigezinkten Gabel, bereitet Saucen vor. Tochter Dina putzt Zichorie, Zamir schneidet Zucchini klein, Aldo steckt Lamm-Innereien auf den Grillspieß und wickelt Lammdarm darum, Pajata heißt diese Spezialität.

Wie läuft das eigentlich im Familienbetrieb? War kein bißchen Ernst dabei, als Amedeo gestern scherzte, die Schwiegersöhne würden sich am liebsten auf und davon machen? Wer bestimmt in der Familie, ist Aldo der große Patriarch? Da überläuft ein Grinsen die Gesichter der beiden Frauen. Anna wedelt verneinend mit dem Zeigefinger, und Aldo fällt lachend ein: “Sie hat mehr Macht als ich, weil die Töchter immer auf ihrer Seite sind. ” Nun ja, Anna führt die Kasse, Aldo das Kommando, es kommt vor, daß aus der Küche lautstark seine Stimme dringt. Vermutlich muß man Italiener sein, um solch ein Familienleben in seinen tausend Tönungen zu fühlen. Jedenfalls sagt Aldo: “Ohne Familienangehörige gehst du ein mit einem solchen Betrieb, das ist ein anderer Geist. ” Jedenfalls meint Mario: “Besser in der Familie arbeiten als unter einem Chef. ” Und jedenfalls berichtet Amedeo, daß die Großfamilie im August, wenn der Pommidoro Sommerpause macht, gemeinsam in Urlaub fährt, letztes Jahr nach Griechenland, amici waren auch dabei, im ganzen 36 Personen. “Entweder sind wir verrückt, oder wir mögen uns gerne”, sagt Amedeo. Dieses Jahr geht es nach Sardinien.

“Ein Paradies der Lügen”

Dina schnippelt Bohnen, Aldo hackt nun Rindersteaks, und Anna richtet einen Kalbsrollbraten her. “Schau her”, ruft sie. “Es muß das Rückenstück vom Kalb sein, die Rippen werden ausgebeint. ” Man nehme also Karotten, Schweinebacke, Sellerie, gekochte Eier und Butter, lege dies auf dem Rückenstück längs in einer Reihe aus, würze mit Pfeffer, Salz und Rosmarin. Sodann wird die Füllung in den Fleischlappen eingewickelt und verschnürt. Anna packt die dreigezinkte Gabel, dreht die Flamme auf, die Hitze wallt, das Fleisch kommt in den Topf. Der Mittag naht, bald wird Aldo wieder die Serviette schultern, einer der Schwiegersöhne wird die erste Portion Spaghetti alla Carbonara ordern, der Tag nimmt seinen Lauf. Vor der Schlacht am Abend werden Anna und Aldo wieder ein Stündchen vor dem Fernseher dämmern, und dann wird es wieder Nacht. Anna zieht die weiße Schürze und die Haube aus, die sie seit dem Morgen trägt. Den Dreizack hat sie fortgelegt, die Flammen gelöscht, längst ist das Rattern des Kreditkarten-Geräts und das Klappern der Geschirrwäsche verklungen. Wie immer ist Anna gut gelaunt, als schöpfe sie aus ihren Töpfen schiere Lebenslust und Kraft. Sie hat vorhin Benito mit einer Melonenschale verfolgt und grinsend ein Schlagerchen geträllert: “Das Leben ist ein Paradies der Lügen. ” Da durfte Aldo sich gefoppt fühlen: “Er hat mir ein schönes Leben versprochen, und ich habe das hier. ” Und nun, Anna? Nicht müde nach der Schlacht? “Nein”, sagt Anna und lacht, “jetzt würde ich tanzen gehen. ” Und hat den ganzen Tag noch nichts gegessen als ein Stückchen Fisch.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 10.8.96[/plain]

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